Digitale Spiele zwischen Kunst und Kommerz
Rolf W. Stoll im Gespräch mit Christian Esch über Next Level (2015)
Am 3./4. Dezember 2015 geht die »Next Level Conference – Kunst und Kultur der digitalen Spiele« im Dortmunder U in die nächste Runde. Was ist mit »Next Level« gemeint?
Der Begriff ist natürlich den Computerspielen entlehnt. Die Festivalkonferenz mit Diskurs und Praxis findet in diesem Jahr zum 6. Mal statt. In dieser Zeit haben wir unterschiedliche Levels bei der Entwicklung der drei wichtigsten Themenfelder erreicht: In erster Linie Kunst und Kultur, aber auch Kreativwirtschaft und Jugend sind mit stetigen Erweiterungen ihrer Kompetenzen befasst. Wir kooperieren dabei auch auf verschiedenen Levels mit unseren Partnern, vor allem mit den Ministerien für Wirtschaft und Jugend, seit Neuerem auch mit der Akademie Remscheid. Ziel und Aufgabe sind es, die Potentiale der Games mit reflektierten und insbesondere praktischen Ansätzen frucht− und nutzbar zu machen und damit endlich mit dieser gar nicht so neuen Kulturtechnik wirklich zu arbeiten, die, bequem und von des Gedankens Blässe wenig angekränkelt, so lange von Politik und Kultur in der Schmuddelecke verortet wurde.
Die Konferenz erklärt »Transmedia« zum Schlüsselbegriff heutigen Kunstschaffens und bringt die Gamification ins Spiel auch in Bezug auf die Weiterentwicklung von künstlerischen Projekten. Welche Tendenzen sehen Sie hier?
Das NRW KULTURsekretariat arbeitet und fördert häufig spartenübergreifend transdisziplinär. Das ist ohnehin nichts Ungewöhnliches, sondern entspricht dem State of the Art. Auch hier braucht es ein besonderes Augenmerk auf die Schnittstellen, zwischen den Künsten und Disziplinen. Es ist ja klar, dass dies mit erheblichen Veränderungen der einzelnen Medien oder Disziplinen einhergeht, und eben darum geht es auch. Wenn wir zum Beispiel immer wieder Experimentelles Musiktheater auf den Weg bringen, wo es um veränderte Gewichtungen der Medien Sprache, Klang und Raum geht, dann geschieht das nicht nur so, dass diese Parameter mit jeder Produktion neu befragt und in ein jeweils neues Verhältnis gesetzt werden. Vielmehr brauchen solche veränderten ästhetischen und dramaturgischen Formen gleichzeitig veränderte Produktionsverhältnisse. Indem »freie« Teams und »feste« Theaterhäuser miteinander experimentieren, entsteht bis in die Produktionsprozesse hinein Ungewohntes. Diese Schnittstelle ist ganz wesentlich nicht nur für das Produzieren, sondern gleichzeitig für das künstlerische Ergebnis, für die Erzählung wie für die Erzählweise. So wie das hier im zumindest überwiegend analogen Arbeiten läuft, so funktioniert das ähnlich auch im Bereich Transmedia in der Verbindung von Parametern einerseits − Klang, Bild, Wort etc. − und von digitalen oder auch teilanalogen Medien andererseits. Transmedia ist ein Prinzip des Arbeitens ebenso wie die Grundlage für ästhetische Ausdrucksformen.
Peter Weibel, Direktor des ZKM Karlsruhe, Medientheoretiker und −künstler, den wir für die letzte Ausgabe dieser Zeitschrift zu seiner »Globale« interviewt haben, entfaltete in seiner Keynote auf der letzten Next Level Conference die Bedeutung von Games für Kunst und Kultur. Dabei hatte er Spiele im Blick, denen neben ihrer spielmechanischen Funktion auch eine über sich selbst hinausweisende gesellschaftliche Funktion eignet, beispielsweise solche, die die Spieler zu Wissenschaftlern machen, oder solche, bei denen die Spieler in moralisch fragwürdige Situationen gebracht werden, die sie zur Reflexion über das eigene Verhalten anregen. Spiele also, die die Welt verändern (was ja impliziert: zum Guten hin verändern), wie auf der Website der Next Level Konferenz zu lesen ist?
Es ist ja keine Frage, dass die Spiele die Welt verändert haben; ob »zum Guten«, ist angesichts von Drohnenkriegen und militärischen Simulationen schon weniger klar. Das Computerspiel wurde ja auch ganz wesentlich aus der militärischen Forschung der 50er Jahre entwickelt. Wie gesagt, für eine lange Zeit galten die Games den politisch Verantwortlichen und Entscheidern ganz grundsätzlich als höchst verdächtig. Tatsächlich gibt es eine Menge äußerst problematischer weil kriegslüsterner und gewaltfeiernder Spiele, so wie das vom Film übrigens auch gesagt werden kann. Die Meinung, dass die Gamer deshalb, weil sie im Spiel agieren, potentielle Amokschützen seien, greift allerdings zu kurz. Dass Gewalt eine solche Anziehungskraft entfaltet, scheint mir das eigentliche Problem zu sein, auf welchen Ebenen auch immer sie sich ausagiert. Die Fragen nach Gewalt und moralischer Bedenklichkeit in den Spielen, die lange Zeit produktive Debatten überlagert haben, sind leider relevant und müssen immer wieder reflektiert werden, so wie dies auf der NLC durchaus geschieht, nicht von oben herab allerdings, sondern im Dialog und in direkter Auseinandersetzung mit den Spielen und den Gamern. Gerade das die NLC mitprägende Computerprojekt Köln ist da ein erfahrener Partner. Dennoch: Uns geht es besonders um die andere Seite der Spiele, die Sie ansprechen, nämlich die kreative Perspektive, die zu lange ignoriert wurde.
Das hat auch mit der umfassenden Dominanz der kommerziellen Unternehmen auf diesem Markt zu tun, die Umsatz sehen wollen, aber jenseits der wirtschaftlichen Wertschöpfung selten an der kreativen und künstlerischen Seite interessiert sind, die es nicht nur durchaus gibt, sondern die auch großes Potential hat. Es war deshalb kein Zufall, dass es mit dem NRW KULTURsekretariat ein Kulturförderer und −veranstalter ist, der dieses Thema aufruft. Die Politik hatte sich, als wir vor sechs Jahren begannen, sehr aus der Schusslinie genommen und das Thema Computerspiele recht weiträumig umgangen. Übrigens sind heute Games beim Bund statt im Kulturressort wieder im Verkehrsressort angesiedelt, das sagt eine Menge über das defensive Verständnis dieses Themas aus, obwohl die Möglichkeiten und Perspektiven doch schon lange erkennbar sind: Zumal Computerspiele erheblich zu u.a. wissenschaftlichen Problemlösungen beitragen, sei es im Umweltschutz, in der Medizin oder in der Infrastruktur. Die Serious Games bieten da größte Möglichkeiten, übrigens auch für die plastisch erlebbare, interaktive Wissensvermittlung im Unterricht. Da mehr zu ermöglichen und die digitale Kompetenz an den Schulen massiv zu fördern, ist schon lange ein Desiderat, das die Politik aber bisher leider weitgehend ignoriert, aus Unkenntnis und vielleicht auch aus Furchtsamkeit. Wir können aber nicht warten, bis die Gamer–Generationen, die jetzt auch schon die 40jährigen einschließen, und insgesamt die Digital Natives an den Entscheidungshebeln sitzen – wenn die nicht eh von der »unsichtbaren Hand« der Wirtschaft okkupiert sind. Computerspielen bedeutet doch keineswegs ausschließlich, nächtelang als pickliger Nerd bei Cola und Chips im Keller zu sitzen, sondern ist längst auch eine Sache von Communities, die weltweit agieren und dabei häufig schneller und effektiver als analoge Unternehmen und Forschungseinrichtungen zu Problemlösungen kommen können. Peter Weibel hat übrigens auch darauf hingewiesen, dass, sehr verkürzt widergegeben, historisch die Spiele für die sich schon lange zuvor abzeichnende Ablösung des Wortes durch das Bild stehen. Bazon Brock hatte im Jahr zuvor schon u.a. auf die Verbindung der Computerspiele mit der Kunst des Fluxus hingewiesen. Inzwischen sind Computerspiele nicht nur wirtschaftlich wichtiger als der Film, sie sind vor allem eine Kulturtechnik, die uns – wie alle Kultur – verändert. Dazu gehört, dass in einem ganz umfassenden Sinne das Modell vom Sender–Empfänger dem – mit einem Games–Terminus gesagt – »User generates content« weicht.
Allerdings ist Gamifizierung ja kein ganz unumstrittener Begriff. Gamification, wie der englische Begriff lautet, ist die Anwendung von Spieledesignprinzipien, Spieledesigndenken und Spielemechanik auf spielfremde Anwendungen und Prozesse, um eine Motivationssteigerung der Benutzer zu erzeugen. »Sie hilft, Techniken für die Benutzer ansprechender zu machen und diese länger an die Anwendung zu binden, indem sie klare Wege zur Beherrschung der Anwendung suggerieren, und den subjektiven Eindruck von Benutzer−Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit verstärken. Gamifizierte Anwendungen nutzen die Tendenz von Menschen aus, sich an Spielen zu beteiligen und auf diese Weise Tätigkeiten zu verrichten, die normalerweise als langweilig betrachtet werden.« Gamifizierung meint letztlich also eine manipulativ herbeigeführte Steigerung von Effizienz. Hat das die heutige Kunst nötig bzw. will sie sich diese Ziele zu eigen machen?
Dass Games und ihre Derivate wirtschaftlichen und effizienzorientierten Zielen dienen, das ist ebenso wahr wie im Kapitalismus leider selbstverständlich. Gamifizierung meint aber im künstlerischen Bereich auch noch etwas anderes. Theater–Ensembles wie Invisible Playground oder Machina Ex übertragen Spieleprinzipien ins Theater oder in den öffentlichen Raum und gewinnen daraus Erzählweisen, die zum Teil ganz erhebliches kritisches Potential entwickeln. Mit den analog übersetzten Mitteln der Spiele werden Effizienz und Marktorientierung gerade konterkariert. Auch im Theater Dortmund werden Übersetzungen von interaktiven Verfahren der Spiele ins Theatrale mit aufregenden und amüsanten Ergebnissen dramaturgisch fruchtbar gemacht. Interessant auch welches Potential interaktive und levelbezogene Strategien im Bereich der Musik haben. Michael van der Aa und Jagoda Szmytka, um nur zwei Namen zu nennen, haben da musikalisch und szenisch interessante Wege beschritten. Wohin das führen kann und welche Möglichkeiten solche digitalen Formate wie Spiele, aber auch Drohnen und vieles mehr bergen, ist noch gar nicht abzusehen, und es lohnt unbedingt der Mühe, sich damit verstärkt zu beschäftigen. Genau das tun wir mit der Next Level Conference, insbesondere mit der Ausgabe 2015 werden wir das Verhältnis der (musik–)performativen Künste und der digitalen Augmented Reality in den Mittelpunkt stellen.
Welche avancierten Kunstprojekte werden innerhalb der Next Level Konferenz stattfinden? Was zeichnet sie aus?
Der Hauptstrang der NLC, Kunst und Kultur, wird, wie die Festivalkonferenz insgesamt, Diskurs und Praxis zusammenführen. Theaterleute wie Stefan Kaegi, Florian Malzacher oder Kay Voges werden die angesprochene Thematik mit Blick auf die künstlerische Praxis und die Perspektiven ausleuchten, die sich daraus für das Theater ergeben können. Ein performatives Oculus Rift–Projekt, das wir in Kooperation mit dem Theater Dortmund vorstellen werden, macht erlebbar, wie digital basierte Performance und Dramaturgie künstlerisch produktiv werden können. Die Komponistin Jagoda Szmytka stellt Teile dessen vor, was sie in einem simultanen Crossmedia–Projekt für den Warschauer Herbst und das ZKM entwickelt und komponiert hat. Und schließlich wird es eine Ausstellung »Spiel auf Zeit« geben, die analoge und digitale Elemente verbindet und so ein begehbares Computerspiel konzipiert, das vor allem dem Thema Zeit und Beschleunigung gewidmet ist. Auch das ist übrigens wieder eine Gamifizierung, die gerade Effizienz mit »Zeitkonten« kritisch behandelt.
Kann sich die Konferenz frei machen von Instrumentalisierungen für die Games–Industrie? Wird die Gefahr einer Abhängigkeit bzw. einer Zuarbeit für diese Industrien und ihre Verwertungsinteressen überhaupt gesehen? Will sie sie überhaupt sehen, d. h. werden auch kritische Positionen diskutiert?
Das ist allerdings ein ganz wichtiges Problem. Ich habe damals auf der ersten NLC einen Vorschlag gemacht: Die öffentliche Hand und die Games–Wirtschaft geben gemeinsam Geld in einen Matching Fund für künstlerische und kreative Entwicklungen. Aus den Ergebnissen kann dann auch die Wirtschaft Nutzen ziehen, muss aber dafür eben auch investieren. Gleichzeitig entstünde ein Klima, in dem Ideen entstehen und entwickelt werden können, ohne den auf Dauer erstickenden ökonomischen Druck für die Kreativen abseits der Norm. Wir mussten uns damals von Vertretern der Games–Industrie anhören, dass man an kreativen, künstlerischen Spielen oder Anteilen wenig Interesse habe, sie hätten nicht genug Marktpotential. Dass dies ein Irrtum war, hat sich unterdessen herumgesprochen. Vielleicht hat solch ein Matching Fund heute bessere Chancen? Klar ist jedenfalls, dass im Bereich der Computerspiele der Kommerz grundsätzlich im Vordergrund steht. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, ohne deshalb die durchaus bedeutsame wirtschaftliche Komponente außer Acht zu lassen, zumal die Kreativwirtschaft ein wichtiger und produktiver Strang unserer NLC ist. Obwohl die ersten drei Festivalkonferenzen in Köln stattgefunden haben, trafen wir damals die Entscheidung, nicht in das Boot der Gamescom einzusteigen, um mit langem Atem und unabhängig arbeiten zu können, also nicht »weggefressen« zu werden. Dass der Deutsche Kulturrat dort jetzt mitmischt, der seit längerem auch den Games–Entwicklerverband mit vertritt, steht auf einem anderen Blatt. Ich denke, dass er mit der kulturellen und kreativen auch die kritische Perspektive verbinden wird. Die NLC ist ein anderes Modell. Hier sind unter dem vom Kultursekretariat getragenen Dach auch das Jugendministerium und das Wirtschaftsministerium NRW mit jeweils selbständigen und selbstverständlich abgestimmten Programmen beteiligt. Unser Anliegen sind also nicht allein Kunst und Kultur, sondern wir wollen – transmedial sozusagen – auch die Schnittstelle mit der Bildung und Jugend bzw. mit der Kreativwirtschaft sein und so ein Format weiterführen, das den kreativen und reflektierten Entwicklungen zwischen den »Ressorts« Raum gibt. Daraus entsteht eine sehr besondere Dynamik, die dafür sorgt, dass 400 Akteure und Teilnehmer vermittels Praxis und Diskurs das Thema Games als Motor für kulturgesellschaftliche Prozesse insgesamt erleben.
Bild: Robin Junicke
Text: Neue Zeitschrift für Musik 05/2015